Wenn aus Angst und Enttäuschung Stärke wird
Ich war ungefähr 10 Jahre alt als ich eines Abends im Bett lag und aufstehen wollte, um auf die Toilette zu gehen. Doch es ging nicht, ich konnte es nicht. Mein Körper hat sich einfach nicht bewegen lassen. Erschrocken und völlig überfordert von der Situation schrie ich nach meinem Vater und weinte vor Schmerzen. Er kam und fuhr mit mir direkt in die Notaufnahme. Die Ärzte konnten nichts feststellen und schickten uns trotz intensiver Schmerzen einfach wieder nach Hause. Ich habe die Welt nicht mehr verstanden. Ich hatte unerklärliche starke Schmerzen und stand unter Schock, da ich meinen Körper einfach nicht mehr unter Kontrolle hatte. Alleine die Vorstellung, nicht mehr laufen zu können, raubte mir die Luft zum Atmen. Niemals zuvor oder danach habe ich mehr Angst verspürt, als in diesem Moment. Ich empfand es als unverantwortlich und fahrlässig einfach wieder nach Hause geschickt zu werden, ohne gründliche Untersuchungen – egal ob es mitten in der Nacht war oder nicht. Es fühlte sich an, als würden meine Schmerzen nicht ernstgenommen werden, als würde ich sie vortäuschen. Die ganze Situation hat mich völlig überfordert und ich hasste es, machtlos zu sein. Heute glaube ich, dass es genau diese Momente damals waren, in denen ich unterbewusst beschlossen habe, mich nie wieder von jemand oder etwas anderem kontrollieren zu lassen. Innerlich zerrissen hat mich, meinen Vater so traurig und wütend zu sehen – er hätte mir so gerne den Schmerz genommen, aber konnte es nicht. Wir beide waren so erschöpft von der ganzen Situation und all den großen Gefühlen. Ich bin zum Glück auf der Rückfahrt im Auto eingeschlafen.
Mein Vater blieb hartnäckig und fuhr am selben Morgen mit mir zum Hausarzt. Schnell kam die erschreckende Diagnose: Tuberkulose der Wirbelsäule. Ich wurde sofort in die Klinik eingewiesen, denn wäre das nur einen Tag später passiert, wäre ich jetzt querschnittsgelähmt. Meine Wirbelsäule war kurz davor zu brechen und meine Lunge war voll von Bakterien, die sich in meinem gesamten Körper ausbreiteten.
Was ist eigentlich Tuberkulose?
Tuberkulose (kurz: TB oder TBC) ist eine ansteckende Krankheit, die durch Bakterien verursacht wird. Diese befallen vor allem die Lunge. Eine Tuberkulose der Wirbelsäule entsteht durch die Ausbreitung der Tuberkulosebakterien in der Wirbelsäule. Die Bakterien gelangen von einem anderen Infektionsherd, meist der Lunge, über das Blut oder die Lymphgefäße, in andere Körperregionen. Dies führt dann zu einer Knochenentzündung und einer Gelenkentzündung in einem oder oft mehreren Wirbeln. Dadurch wird das Knochengewebe zunehmend geschädigt. Der Wirbel verliert anschließend an Stabilität und kann in sich zusammenbrechen.
Einen Abend vor dem Vorfall besuchte ich eine Schulfreundin und musste dort natürlich auch mal auf die Toilette. Ich werde mir nie ganz sicher sein können, aber mein Gefühl sagt mir, dass ich mir die Krankheit während des dortigen Toilettenbesuchs eingefangen habe. Seither gehe ich auf keine einzige Toilette mehr, die nicht in meinem Zuhause ist. Lieber halte ich es aus. Ich trinke daher aus Prinzip bereits vor den Treffen mit Freunden oder anderen Menschen etwas zu Hause und lehne die Getränke meines Gastgebers dankend ab. Wenn ich jemanden besuche und es doch mal vorkommt, dass ich dort auf Toilette gehe, ist das der größte Vertrauensbeweis den ich geben kann. Die Angst wieder an TBC zu erkranken, ist einfach viel zu groß. Deshalb achte ich sehr drauf, dass mein Badezimmer immer außerordentlich sauber ist. Denn in meinem Kopf stammen die Bakterien von der Toilette. Die Badezimmer meiner Gastgebers, der Arbeitsstelle oder zum Beispiel in Restaurants müssen auch extrem sauber sein.
Ein langwieriger Prozess
Plötzlich wurde aus dem glücklichsten Kind der Welt, das traurigste. Getrennt von meiner Familie zu sein und mich nicht bewegen zu können, war für mich die größte Strafe. Zum Glück durfte mein Vater bis zur Operation und kurze Zeit danach bei mir im Zimmer sein. Die Operation verlief zwar problemlos, allerdings musste ich anschließend knapp ein Jahr im Krankenhaus verbringen, davon sechs Monate ans Bett gefesselt. Mir wurden zwei Rippen meiner rechten Körperhälfte entfernt. Dafür wurde dann eine rechteckige Platte als Unterstützung an die Wirbelsäule angebracht. Das Bett, an dem ich im wahrsten Sinne des Wortes befestigt war, ließ sich nur Stück für Stück heben, sodass ich am Ende wieder aufrecht stehen konnte. Der Abbau meiner Muskelmasse und der Verlust meiner Muskelkraft waren Nebenwirkungen meiner langen Bettruhe. Ich kann mich leider gar nicht mehr erinnern, wie die Physiotherapeuten das verstellbare Bett nutzten, um mich wieder aufzurichten. Scheinbar verliert man nach etwa einer Woche, die man ans Bett gefesselt ist, etwa 20 bis 25 Prozent seiner Muskelmasse. Es dauert dann wiederum mindestens sechs Wochen, bis das Verlorene durch regelmäßiges Training wieder aufgebaut ist. Das bedeutete für mich 150 Wochen Training im Krankenhaus, bis ich wieder in der Lage war, alleine aufrecht zu stehen.
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Peter
5 Apr 2021Hallo Maya, mich macht deine Geschichte traurig, nicht so sehr das du so schlimm krank warst, das ist zum Glück wohl wieder einigermaßen in Ordnung. Vielmehr dass du wegen dieser ganzen Sache so lange daran gelitten hast.
Ich glaube du bist an der ganzen Sache gewachsen und deshalb jetzt so stark und selbstbewusst wie du es jetzt bist. ??❣️